„Du bist ein kleiner Träumer!“
Diese Worte begleiten mich seit meiner Kindheit. Wahlweise in Verbindung mit einem süffisanten Schmunzeln oder einer abschätzig erhobenen Augenbraue.
Ursprünglich von mir mit einem erwartungsvollen Lächeln bedacht, begriff ich relativ schnell, dass diese Phrase nicht positiv konnotiert zu sein schien. Die Motive dahinter blieben mir unverständlich und doch erahnte ich genug, um fortan meine Träume im Herzen statt auf der Zunge zu tragen. Fantasien tummelten sich so vor allem in meinem Kopf. Ausgelebt wurden sie nur dann, wenn niemand zusah. Gelang mir einmal etwas nicht, so schalt ich mich schon bald „Du bist ein kleiner Träumer!“, die eigene Stimme zunehmend vorwurfsvoll in mir wiederhallend.
Lange sollte dieser Glaubenssatz, wie ich ihn heute wissentlich nenne, nicht alleine bleiben. Mit der Zeit gesellten sich weitere Zeitgenossen wie „Du darfst nicht zu viel wollen!“ und „Die Leute denken, irgendwas stimmt nicht mit dir!“ dazu. Die Liste war lang. Und obwohl ich mit einhergehenden Jahren gelernt hatte, dass es sich nicht schickte aus der Masse herauszustechen, behielt ich einen Funken Sehnsucht nach mehr sicher in mit verwahrt Es schien so ungerecht.
So kann es nicht weitergehen
So sehr, wie ich all die Phrasen für mich verinnerlicht hatte, so wenig konnte ich dennoch mit ansehen, wenn anderen Menschen dieses Unrecht wiederfuhr. Wurde in der Schule ein Kind für zu viel Fantasie getadelt, begann ich zu diskutieren. Ernteten Kolleg*innen einen Rüffel für zu viel Mitdenken, stand ich für sie ein. Mahnte man Mitarbeiter*innen für übereifriges Engagement, suchte ich einen Weg, dieses zu fördern.
So wenig ich lange Zeit in mir selbst sah, so oft begegnete ich Menschen, die dies glücklicherweise für mich übernahmen. Mit jedem Meilenstein, egal ob beruflich oder privat, wuchs das Vertrauen anderer in meine Fähigkeiten. Freunde schwärmten von meiner Vielseitigkeit und Vorgesetzte lobten meine Kompetenz. Nur ich war immer noch festen Glaubens, dass ich doch im Grunde überhaupt nichts tat. Ich war schließlich einfach nur ich und früher oder später würden sie alle genau das bemerken.
Während ich Seminar über Seminar besuchte, mir nebenberufliche Standbeine aufbaute und darüber hinaus auch fern der Arbeit für meine Mitmenschen da war, suchte ich doch ständig nach dieser einen Sache, in der ich brillieren könnte. Diese eine Sache, die es mir erlauben würde, einem Traum hinterherzujagen. Einem Traum, der angemessen wäre.
Ich mag keine Ziele
Wie jedes Jahr beschäftigte ich mich zum Jahreswechsel mit dem Stecken und Erreichen von Zielen (https://sprachmagie.com/weil-du-es-dir-wert-bist/). Für jedermann lesbar formulierte ich meinen Unmut aus, jene Ziele zu überdenken, geschweigeden, niederzuschreiben. Ich mag keine Ziele. Meine Vorstellungskraft dahingehend tendiert gegen null. Jetzt mögen viele Stimmen laut werden, dass ohne ein Ziel jeder Weg vergebens sei. Dem möchte ich allerdings als personifizierte Gegendarstellung entgegentreten: Was auch immer ich in meinem Leben anpacke, hinter allem steht das „Jetzt“. Auf die Frage, warum ich etwas tue, antworte ich regelmäßig mit einem Schulterzucken, einem „Das habe ich noch nie gemacht.“ Oder einem schlichten „Einfach so.“. Wenn ich eine Sache allerdings angehe, dann verschreibe ich mich ihr mit Haut und Haar. Erst im nächsten Schritt entstehen daraus für mich häufig vorher ungeahnte Ziele.
Nun kam ich bei meiner Neujahrsplanung nicht drumherum mich mit Techniken wie „SMART“ oder der Erstellung eines Visionboards zu beschäftigen. Jedes dieser Hilfsmittel für sich sicher ein kraftvolles Instrument. Zumindest, wenn die Richtung steht und ich weiß, wohin der Weg führen soll … Ich mag keine Ziele. Sicher würde ich nicht auf dem Boden sitzend, bewaffnet mit Schere und Kleber die gängigen Zeitschriften durchforsten!
Planlos geht mein Plan los
Im wahrsten Sinne des Wortes ziellos fasste ich also den Plan, einfach alles, was mir im Kopf umherflog, mittels Postkarten auf meiner Pinnwand zu manifestieren. Nicht nur das, was ich liebte, bereits in meinem Leben hatte und entsprechend halten wollte, sondern auch die für mich unvorstellbarsten Träume und verborgenen Wünsche, die schon so lange in meinem Innersten unter Verschluss lagen. All das „zu viel“, dass ich mir für mein Leben erträumte.
Vielleicht ein Stück weit, um mir selbst zu beweisen, dass Visionboards nichts für mich sind, vielleicht auch ein wenig, um die Sehnsucht nach meinen tief verwurzelten Wünschen zu streicheln.
Binnen weniger Stunden thronte ein Konglomerat aus Postkarten und Bildern an einer Pinnwand am Fuße meines Hausflurs, an welchem ich morgens mit einer Tasse Kaffee, abends mit einer Tasse Tee und dazwischen mit dem Kopf voller Gedanken vorbeiwandelte. Mal hielt ich inne und betrachtete mein Wunschwerk, dann wieder fand es tagelang keine Beachtung. Mal über mich selbst grienend und ab und an entschlossen die Augenpartie verengend.
Und plötzlich war er da, der eine Moment, an dem ich nicht anders konnte, als unvermittelt stehenzubleiben. Da waren sie alle vor mir auf einen Schlag abgebildet: Meine Liebsten, die mich das ganze Jahr über unterstützt, getragen und geliebt hatten. Die Tasse Kaffee, die meinen morgendlichen Fantasien Flügel verlieh. Versionen meiner Vorstellungen von mir, die inzwischen wirklich wurden. Abbildungen, die mir, wie aus einem Fotoalbum vergangener Wochen, darlegten, was meine Tage gefüllt hatte. Bühnenbilder, die so weit weg und so surreal wirkten, dass ich mich fast nicht getraut hätte, sie in die Collage aufzunehmen. Ich wusste ja nicht einmal, was auf der Bühne passieren sollte, hatte keine Ahnung, wohin die Reise gehen würde, nur dass es dieses Bild sein würde, dass ganz sicher bewies „Du bist ein kleiner Träumer!“.
02. August 2021
Noch immer steh ich da. Die Zeit scheint eingefroren. Gleißendes Scheinwerferlicht fällt in meine Augen. Konfetti flirrt durch den Raum. Bedeckt den Boden. Durchströmt meinen Körper. Applaus hallt in meinen Ohren. Und alle sind sie da.
Ich bin ein (kleiner) Träumer!
Träum mal drüber nach.